Geschichte und Ziele der Anthropologischen Gesellschaft
Ein detaillierter Beitrag zur Geschichte der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, insbesondere zur Zusammenarbeit mit den Nachbarfächern, stammt von Dr. Angelika Heinrich und erschien anläßlich des 125-jährige Bestandsjubiläum der Gesellschaft im Jahr 1995:
Erschienen in den Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien (MAGW), Band 125/126, 1995/96, S. 11-42. Zum Lesen des pdfs, bitte Titel anklicken.
Die Anthropologische Gesellschaft in Wien wurde am 13. Februar 1870 gegründet. Erster Präsident war Carl v. Rokitansky (1804-1878), Professor für pathologische Anatomie an der Universität Wien und von 1869 bis 1878 Präsident der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.
Die Anthropologische Gesellschaft in Wien ist eine gemeinnützige Gesellschaft. Sie sieht ihre Aufgabe in der Förderung von Studien über den Menschen in körperlicher und geistiger Beziehung, besonders insofern sie seine Verhältnisse in einzelnen Volks- und Kulturgruppen und deren Geschichte zum Gegenstand haben. Von Anfang an war eine universelle Wirksamkeit angestrebt, die alles umfassen sollte, was sich auf den Menschen bezieht. Der Mensch aller Zeiten und aller Erdteile sollte Gegenstand der Forschung sein.
Seit ihrer Gründung war der wichtigste Grundsatz der Tätigkeit der Anthropologischen Gesellschaft in Wien das Bemühen um die Zusammenarbeit der in ihr vertretenen Wissenschaften, deren aller Forschungsziel auf den Menschen gerichtet ist (physische Anthropologie, Ur- und Frühgeschichte, Volkskunde, Völkerkunde). Unsere Gesellschaft sollte das gemeinsame Dach über den sich allmählich spezialisierenden und ausweitenden und auseinanderstrebenden anthropologischen Disziplinen sein. In Ergänzung zur Arbeit der wissenschaftlichen Institute sieht sie ihre Aufgabe in der Verbreitung und Popularisierung der neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der in ihr vertretenden Wissenschaften.
Diese Aufgabe erfüllt unsere Gesellschaft durch regelmäßige Versammlungen, die Veranstaltung von öffentlichen Vorträgen und die Herausgabe von Druckschriften. Bis heute - in einer Zeit der Hochspezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen - ist der Anthropologischen Gesellschaft in Wien ihre Funktion geblieben: einziges Forum zu sein zum Dialog zwischen den aus ihr hervorgegangenen vier Forschungszweigen, deren Lehre in Wien gegenwärtig von drei verschiedenen Fakultäten wahrgenommen wird.
Auf der Gründungsversammlung der Anthropologischen Gesellschaft in Wien am 13. Februar 1870 war auch die Einrichtung eines anthropologisch-urgeschichtlichen Museums sowie einer Fachbibliothek beschlossen worden. Die ersten Kustoden dieses Museums waren der Ethnograph Felix Philipp Kanitz (1829-1904) und ab 1874 Felix v. Luschan (1854-1924), der 1904 zum Direktor der Abteilungen Afrika und Ozeanien des Berliner Völkerkundemuseums und 1909 zum Ordinarius für Anthropologie an der Universität in Berlin ernannt wurde. Zum Bibliothekar wurde Jakob Eduard Polak (1818-1891) bestimmt.
Maßgeblich war unsere Gesellschaft auch an den Vorbereitungen für die neu eingerichtete Anthropologisch-ethnographische Abteilung des 1876 gegründeten k.k. Naturhistorischen Hofmuseums beteiligt. Der erste Intendant des Museums, Ferdinand v. Hochstetter (1829-1884), war bis zu seinem Tode Ausschußmitglied der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Auch sein Nachfolger, Franz v. Hauer (1822-1899), wirkte seit ihrer Gründung als Ausschußrat in unserer Gesellschaft.
Am 13. Februar 1877 faßte die Jahreshauptversammlung der Anthropologischen Gesellschaft in Wien den Beschluß, die bis dahin reichlich angewachsenen Bestände ihres Museums und ihrer Bibliothek an die neu gegründete Abteilung des k.k. Naturhistorischen Hofmuseums zu übergeben. Mit diesem Geschenk war auch die Verlegung des Sitzes unserer Gesellschaft in das heutige Naturhistorische Museum verbunden.
Die aus der Anthropologisch-ethnographischen Abteilung hervorgegangene heutige Anthropologische Abteilung und die Prähistorische Abteilung sowie das heutige Museum für Völkerkunde verdanken der Anthropologischen Gesellschaft in Wien den Grundstock ihrer Bibliotheken. Durch den Schriftentausch mit den Publikationen unserer Gesellschaft zugunsten der beiden genannten Abteilungen wird diese enge Beziehung bis auf den heutigen Tag fortgeführt.
Ein weiteres wichtiges Anliegen unserer Gesellschaft war es, den von ihr vertretenen Wissenschaften den Weg auf akademischen Boden zu ebnen. Den Anfang machte die Prähistorie, die bereits im Jahr 1899 einen Lehrstuhl an der philosophischen Fakultät der Universität Wien erhielt. Als erster Professor wurde am 17. Januar 1899 Moriz Hoernes ernannt. Im Jahr 1913 erfolgte die Ernennung von Rudolf Pöch zum ordentlichen Professor an der neu gegründeten Lehrkanzel für Anthropologie und Ethnographie. Diese Lehrkanzel wurde 1927 geteilt. Josef Weninger wurde zum Professor für Physische Anthropologie und 1928 P. Wilhelm Koppers zum Professor für Völkerkunde ernannt.
Die gemeinsame Arbeit der in unserer Gesellschaft vereinigten vier wissenschaftlichen Disziplinen findet ihren Niederschlag unter anderem in den bisher erschienenen 148 Bänden der "Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien".
(Die Namen der Abgebildeten Personen können durch das Bewegen des Cursors über das Bild angezeigt werden)
(Bildquelle: Wikipedia, Free Commons)
Präsidenten seit der Gründung
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1870 – 1878 | Carl v. Rokitansky | Pathologe | 1804 - 1878 |
1879 – 1881 | Eduard v. Sacken | Kunsthistoriker | 1825 - 1883 |
1882 – 1902 | Ferdinand v. Andrian-Werburg | Geologe, Anthropologe | 1835 - 1914 |
1903 – 1920 | Carl Toldt | Anatom | 1840 - 1920 |
1921 – 1928 | Rudolf Much | Altphilologe, Altertumskundler | 1862 - 1936 |
1929 – 1942 | Victor Christian | Orientalist, Ethnologe | 1885 - 1963 |
1946 – 1950 | Josef Weninger | Anthropologe | 1886 - 1959 |
1951 – 1952 | Herbert Mitscha-Märheim | Prähistoriker | 1900 - 1976 |
1953 – 1958 | Robert Heine-Geldern | Ethnologe | 1885 - 1968 |
1964 – 1984 | Walter Hirschberg | Ethnologe | 1904 - 1996 |
1985 – 2002 | Karl R. Wernhart | Ethnologe | * 1941 |
2003 – 2011 | Herbert Kritscher | Anthropologe | * 1955 |
2012 – | Hermann Mückler | Ethnologe | * 1964 |